Pressecommuniqué bei der Erstauflage von Leben- und Sterbenkönnen

Leben- und Sterbenkönnen
Gedanken zur Sterbebegleitung und zur Selbstbestimmung der Person, Oktober 1995

Der in Grandvaux bei Lausanne lebende Philosoph R. Harri Wettstein befasst sich in seinem interdisziplinär angelegten, gut aufgemachten Werk zum ersten Mal in der Sterbeliteratur ausführlich mit dem Schweizer Exit-Manual. Er diskutiert die in der Schweiz während den letzten fünfzehn Jahren herausgebildete Praxis der Selbsttötungshilfe und vergleicht diese mit amerikanischen Ansätzen. In der Schweiz wird Freitodhilfe in aller Öffentlichkeit nur im Privatheim und von Privatpersonen (Exit) angeboten, während in den US-Bundesstaaten, die Freitodhilfe zulassen, dieser Beistand ausschliesslich von Ärzten und im Spital geleistet wird. W. erörtert die Vor- und Nachteile dieser beiden Möglichkeiten in ihrem kulturellen Umfeld, moniert dann aber für den von Exit eingeschlagenen Weg.

Gleichzeitig plädiert W. für ein vermehrtes Ernstnehmen der spirituellen Wünsche des Sterbenden: Betreffend den Umgang mit Schmerzen und Leiden gilt es, eine zeitgemässe Ars moriendi wieder zu entdeckten. Die Möglichkeit, über Freitodhilfe frei und offen reden zu können und diese in Extremfällen dann auch zu beanspruchen, ist Teil dieses Umgangs.

Sterbehilfe ist in fast keinem europäischen Land gesetzlich geregelt, und wo gesetzliche Ansätze existieren (z.B. in Holland), sind sie ethisch fragwürdig. W. schlägt ein Dreistufenmodell vor, das sich am Zustand des Sterbenden orientiert. In einer ersten Phase erhält der Betroffene uneingeschränkten Zugang zur Palliativpflege, d.h. zur Pflege, die sich um das allgemeine Wohlbefinden des Sterbenskranken sowie um den Beistand seiner Angehörigen kümmert. Im Zentrum der Palliativpflege steht die Schmerzbekämpfung sowie neuerdings auch das Eingehenkönnen auf spirituelle Anliegen. Leider wird der Palliativpflege sowohl in der pflegerischen Ausbildung wie in der Praxis noch ein allzu geringer Stellenwert beigemessen, so dass auf diesem Gebiet noch viele Fortschritte erzielt werden müssen. (Das Wort ‘palliativ’, das schon 1990 von der Weltgesundheitsorganisation hauptsächlich im Zusammenhang mit den Krebskranken definiert worden ist, hat sich in den letzten Jahren auch im Deutschen durchgesetzt. Dies sollten sich vor allem jene Juristen oder Philosophen klar machen, die noch nicht gemerkt haben, dass man das Wort ‘passive Sterbehilfe’, mit dem in den letzten Jahren viel Verwirrung gestiftet worden ist, durch den Ausdruck ‘Palliativpflege am Sterbenden’ ersetzen kann.)

Freilich können nicht alle Patienten aufgrund ihres Zustandes palliativ gepflegt werden. Dazu zählen nicht nur jene, deren Schmerzen nicht gelindert werden können. Immerhin sind es je nach Schätzung 5- 20 % der Terminalkranken, die unter starken Schmerzen leiden. So wird auch in ferner Zukunft mit optimal ausgestatteter Palliativpflege Chronischkranken oder Nicht-mehr-Zurechnungsfähigen die Tür zur Palliativabteilung verschlossen bleiben. (In der Schweiz existiert zur Zeit nur ein einziges, ausserhalb des Spitals befindliches Palliativheim, Riveneuve in Villeneuve am Genfersee, in dem sämtliche Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Dort hat W. zwei Praktika während der Niederschrift seiner Arbeit absolviert.) Um der Wirklichkeit aller Sterbesituationen gerecht zu werden, soll nach W. für jeden zurechnungsfähigen Erwachsenen eine einfache Standardpatientenverfügung gelten. Freilich wäre dann jeder, der mit dem gesetzlich geregelten Wortlaut nicht einverstanden ist, verpflichtet, seine anders lautenden Wünsche (wie dies z.B. auf der neuen Exitpatientenverfügung vorgesehen ist) oder seine Ablehnung bei einer Zentralstelle registrieren zu lassen.

Natürlich setzt eine derartig radikale Lösung einen allgemeinen Mentalitätswandel voraus, der den meisten heutigen Betagten, die noch mit dem Wunderglauben an die Medizin aufgewachsen sind, nicht zugemutet werden soll. W. diskutiert die sozialpolitischen Probleme, die sich bei der Umsetzung einer solchen Lösung ergäben. Eine Pflegekostenersparnis kann bei zunehmender Langlebigkeit mit stagnierendem Nachwuchs in Zukunft nur durch eine für Männer und Frauen geltende Zivildienstpflicht erreicht werden, bei der auch die Altenpflege vermehrt zum Zuge käme.
In all den Fällen nun, der die beste Palliativpflege nicht mehr gerecht werden kann, soll auf einer zweiten Stufe jeder Zurechnungsfähige die Möglichkeit haben, einen Anspruch auf Freitodhilfe zu erheben. Nur wenn der Patient körperlich überhaupt nicht mehr in der Lage ist, den Todestrunk zu schlucken oder zu verdauen, soll ihm – auf der dritten Stufe – die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe freigegeben werden.

Dieser Vorschlag enthält eine verdeckte Kritik an der holländischen Praxis. Dort hat sich nämlich herausgestellt, dass die Patienten freie Wahl zwischen Freitodhilfe und aktiver Sterbehilfe haben. Ergebnis: Die meisten Sterbehilfewünschenden ziehen die aktive Sterbehilfe der Freitodhilfe vor. Nach W. sollte im Namen der selbstverantwortlichen Selbstbestimmung das Verhältnis jedoch gerade umgekehrt sein. W. arbeitet in seinem Buch eine eigenständige Persönlichkeitstheorie aus, um das Phänomen der Selbstbestimmung interdisziplinär zu erarbeiten. Damit sich eine Person selber bestimmen kann, muss ihr eine gerechten Gesellschaft die Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten und Wünsche zu entfalten. So weit nichts Neues. Zur Selbstentfaltung gehört nun aber auch grundsätzlich die Auseinandersetzung mit Schmerzen und Leiden. Hier geht W. nun ganz neue Wege einer theologischen Sozialkritik – sozialkritisch, weil heutige Gesellschaften die starke Tendenz haben, nicht nur den Tod, sondern auch Schmerzen und Leiden zu verdrängen; theologisch, weil W. Sterben und Sterbebegleiten generell in einen spirituellen Rahmen stellt, der das Dreistufenmodell resolut unterstützt. W. schafft sich damit Feinde sowohl bei sturen Freidenkern, die nichts von Religion hören wollen, als auch bei fundamentalistischen Theologen christlicher oder anderer Herkunft, für die Freitodhilfe in der Tabuzone liegt.

Ws. Buch ist sehr umfangreich. Es ist aber nicht in einem akademischen Fachchinesisch geschrieben und liest sich sehr flüssig. Um eine rasche Orientierung zu gewährleisten, ist es mit sogenannten Leserastplätzen ausgestattet worden, welche auf besonders wichtige Stellen hinweisen: Hauptthesen – Standard-Patientenverfügung und Schema – Selbstbestimmung und erweiterte Patientenverfügung – Grundwerte der Gesellschaft: Autonomie und Integration – Künftiger Grosselternstatus und Erbschaft – Zusammenfassung der Machttheorie – Abstufungsgrade der Aggression – Rolle und Selbstidentifikation – Kritik an Schulmedizin – Aids – Arzt-Patienten-Verhältnis – Übergang von der Palliativpflege zur Freitodhilfe – Keine Leidensgrenzen für Christen? – Sündenbock, Wahrheit und Ritual – Sühne und Patientenverfügung – Schlusspassage.

W. hat zu Leben- und Sterbenkönnen auch eine Art Kurzfassung herausgegeben: Qui fixera le jour et l’heure? Lettre ouverte à Ronald Reagan, atteint de la maladie d’Alzheimer (Ed. de l’Aire, Vevey, 1996). Auf Deutsch: Diagnose Alzheimer. Offener Brief an Ronald Reagan. W. schreibt Ronald Reagan einen fiktiven offenen Brief, um ihn zum Überlegen seines letzten, am 4. November 1994 vorgetragenen öffentlichen Statements zu bewegen. Darin enthüllt Reagan vor aller Weltöffentlichkeit seine Alzheimerdiagnose. In diesem Appelle äussert sich der Altpräsident u.a. zu seinen Pflegewünschen. Seine Willensäusserung ist eine Art Patientenverfügung, bietet somit einen geeigneten Anlass, um die Wirksamkeit von Patientenverfügungen sowie deren Inhalt, insbesondere bei Alzheimererkrankung, zu diskutieren. Da sich Reagan mehrmals an Gott wendet, geht die Schrift auf theologische und sozialkritische Fragen (z.B. Reagans Liberalismus) ein. Dabei geht es um das gut Sterben- wie das gut Lebenkönnen. Der Leser wird dadurch motiviert, aus seiner Patientenverfügung eine eigene Lebenshaltung zu entwickeln. Er soll sich gleichzeitig bewusst werden, welche Spiritualität in seinen Wünschen und Hoffnungen verborgen liegt.

R. Harri Wettstein | Verlag Peter Lang 1997, Drittauflage 2000

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